Auf die blutigen Terroranschläge von Mumbai reagieren die Menschen weltweit mit blankem Entsetzen. Mehr als 170 Menschen fielen ihnen zum Opfer, 300 weitere wurden verletzt, unter ihnen Touristen, Ladenbesitzer, Arbeiter, wie auch Leute, die zufällig vorbeikamen.
Solche Tragödien passieren nicht einfach: Ihnen liegen jahrzehntelange Entwicklungen zugrunde. Die Tragödie von Mumbai hat ihre Ursache in nationalen und kommunalen Spannungen, die den indischen Subkontinent seit seiner Spaltung 1947 am Ende der britischen Kolonialherrschaft beherrschen.
Die Reaktion der indischen Koalitionsregierung unter Führung der Kongresspartei war vorhersehbar und ist völlig verantwortungslos. Reflexartig beschuldigten die indischen Behörden den historischen Erzrivalen Pakistan und machten ihn für den Angriff verantwortlich. Sie stießen dunkle Vergeltungsdrohungen aus.
Niemand hat bisher ernsthaft die Frage untersucht, warum und unter welchen Umständen zehn bewaffnete Menschen Indiens größte Stadt drei Tage lang in ein Schlachtfeld verwandeln konnten. Die Zeitung Hindu schrieb, "Indiens Geheimdienste" hätten in den letzten Wochen "mindestens drei konkrete Warnungen" vor einem bevorstehenden Anschlag herausgegeben. Das lässt darauf schließen, dass die indischen Sicherheitskräfte im besten Fall massiv versagt haben.
Innenminister Sriprakash Jaiswal sagte, die indische Aufklärung "wird auf Kriegsniveau hochgefahren". Ein Militärsprecher sah sich gezwungen, eine Truppenmobilisierung gegen Pakistan zu dementieren.
Der pakistanische Präsident Asif Ali Zardari versprach am Samstag, er werde gegen jede Person oder Gruppierung in Pakistan vorgehen, die etwas mit den Angriffen zu tun habe. Es scheint, dass sich Zardari selbst nicht sicher ist, welche Rolle der pakistanische Geheimdienst und andere Sicherheitsdienste bei den Anschlägen gespielt haben.
Zardari soll sich am späten Samstagabend auch mit seinem Premierminister und dem Armeechef getroffen haben, um die Verteidigungsfähigkeit der Armee gegen einen Angriff Indiens zu erörtern.
In Neu-Delhi beeilte sich Premierminister Manmohan Singh, eine Einheitsfront mit der offiziellen Oppositionspartei Bharatiya Janata Party zu bilden, die die Regierung seit langem beschuldigt, nicht entschlossen genug gegen den Terrorismus vorzugehen. Er forderte weitreichende neue Vollmachten für die indischen Sicherheitsorgane. Am Sonntag gab Singh bekannt, er habe parteiübergreifende Gespräche über die Bildung einer neuen Bundesbehörde und über die Schaffung "eines neuen juristischen Rahmens" für den Kampf gegen den Terror aufgenommen.
Die hindu-chauvinistische BJP hat eine lange Geschichte, in der Gewalt und regelrechte Pogrome gegen Indiens Moslems und andere religiöse Minderheiten eine große Rolle spielen. In den Wochen vor der Kommandoaktion in Mumbai führte die BJP eine hysterische Kampagne zur Verteidigung von Hindu-Extremisten, die eine Reihe von tödlichen Bombenanschlägen verübt hatten.
Washington nutzt die Empörung breiter Bevölkerungsschichten über das Mumbai-Massaker zur Rechtfertigung des "Kriegs gegen den Terror". Mit dieser Parole wurden die Raubkriege im Irak und in Afghanistan und der massive Angriff auf demokratische Rechte im eignen Land begründet und gerechtfertigt. Zweifellos wird die US-Regierung die neu angeheizten Spannungen zwischen Pakistan und Indien insgeheim nutzen, um Druck auf Islamabad auszuüben. Die pakistanische Regierung soll in ihren Grenzregionen mehr für die Unterdrückung der bewaffneten, gegen die US-Truppen in Afghanistan gerichtete Opposition tun. Die US-Regierung wird verstärkt das "Recht" der USA einfordern, militärische Aktionen in Pakistan durchzuführen.
Diese Ereignisse sind ein weiteres Beispiel dafür, wie explosiv die weltpolitische Lage heute ist. Ein unerwartetes Ereignis führt zu einer politischen Krise, die weltweit unkalkulierbare Folgen haben kann. Die kapitalistische Presse wird mit ihrer Sensationshascherei und politisch voreingenommenen Berichterstattung keine ernsthafte Erklärung für eine solche plötzliche und scheinbar zufällige Wende der Ereignisse liefern.
Die westlichen Medien haben Indien in den letzten Jahren häufig als "die größte Demokratie der Erde" mit einer kraftvollen Wirtschaftselite gefeiert - mit einem Wort: eine kapitalistische Erfolgsgeschichte.
In Wirklichkeit wird Südasien von enormen sozialen Gegensätzen geprägt. Diese Konflikte wurzeln in der kolonialen Unterdrückung des indischen Subkontinents. Durch den ständigen Verrat und die Unterdrückung, mit der die aufsteigenden indischen und pakistanischen Bourgeoisien gegen die antiimperialistischen und sozialen Befreiungsbewegung der Massen vorgingen, die den Subkontinent in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erschütterten, wurden diese sozialen Gegensätze vertieft.
Die Teilung Britisch-Indiens in ein muslimisches Pakistan und ein überwiegend hinduistisches Indien führte zu kommunalistischer Gewalt, der bis zu zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Vierzehn Millionen Menschen waren gezwungen, von Pakistan nach Indien und umgekehrt umzusiedeln. Das Ergebnis war eine erbitterte geopolitische Rivalität zwischen Indien und Pakistan, die schon zu drei großen Kriegen geführt hat.
Die Teilung selbst war nur der blutigste und tragischste Ausdruck der Unfähigkeit der südasiatischen Bourgeoisie, die Aufgaben der demokratischen Revolution zu erfüllen, die darin bestanden, die Milliarden Menschen des Subkontinents zu vereinen, den Großgrundbesitz zu beseitigen und die Kastenunterdrückung zu beenden. Die herrschende Klasse war vom Imperialismus abhängig und fürchtete die junge und kämpferische Arbeiterklasse.
Heute, 61 Jahre nach der Unabhängigkeit, leben in Südasien die meisten armen Menschen auf der Welt. Auf Befehl des Internationalen Währungsfonds setzt Pakistan gegenwärtig ein brutales wirtschaftliches Restrukturierungsprogramm durch, kürzt die Sozialausgaben, beseitigt Energiesubventionen und hebt die Zinsen an. In Indien hungert die Bourgeoisie die Landwirtschaft aus, von der die Existenz der Mehrheit der Bevölkerung abhängt. Sie streicht staatliche Agrar-Unterstützung zu Gunsten einer "Entwicklungsstrategie", mit der sie sich selbst bereichern will, indem die dem Weltkapitalismus billige Arbeitskräfte bietet.
Die vom Imperialismus manipulierte, geopolitische Rivalität führt dazu, dass Dutzende Milliarden Dollar in den Krieg gesteckt und an Waffen verschwendet werden. Damit wird jede wirtschaftliche Entwicklung behindert. Südasien ist heute die ökonomisch am wenigsten integrierte Weltregion.
Weil die indische wie die pakistanische Bourgeoisie gleichermaßen unfähig sind, eine progressive Lösung für die Probleme der Massen zu bieten, versuchen sie durch das Schüren von Feindschaft gegen den "äußeren Feind" und durch die Förderung von Kastenpolitik, sowie durch das Anheizen von ethnischen und religiösen Konflikten von sozialen Spannungen in ihrem jeweiligen Land abzulenken.
In Pakistan spielte der US-Imperialismus in diesem Prozess eine aktive Rolle. Er bewaffnete Pakistan und unterstützte mehrere Militärdiktaturen, besonders nach dem er die sowjetische Invasion in Afghanistan provoziert und Pakistan dabei als seinen regionalen Staathalter eingesetzt hatte.
In den ersten drei Jahrzehnten der indischen Unabhängigkeit spielte die Hindu-Rechte nur eine unbedeutende Rolle. Jetzt ist sie in der Form der BJP die offizielle alternative Regierungspartei der indischen Bourgeoisie. Die Ereignisse in Mumbai haben erneut gezeigt, dass sich die Kongresspartei an diese reaktionäre Schicht anpasst und mit ihr gemeinsame Sache macht.
Letztlich ist die Tragödie von Mumbai eine vernichtende Anklage gegen den bürgerlichen Nationalismus, der die ethnischen, kommunalen und Kasten-Gegensätze in Südasien nicht überwinden kann, weil er der Mobilisierung der Massen auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Klasseninteressen feindlich gegenüber steht. Stattdessen spaltet das reaktionäre Staatensystem in Südasien die Arbeiter des südindischen Subkontinents und hetzt sie gegeneinander auf. Das schafft die ständige Gefahr neuer Kriege in einer Region, die mit Atomwaffen ausgerüstet ist.
Diese gefährliche Situation und historische Krise kann nur durch eine sozialistische Revolution überwinden werden, die die Massen Südasiens vereint. Keine andere dauerhafte Lösung ist möglich.